1.

 

In der Vorweihnachtszeit war nicht einer gefeit
 Weit und breit gegen die Ungeheuerlichkeit.

 

Sag es nicht. Sag es nicht. Sag es nicht.« Dieses Mantra murmelte Danny Granite tonlos vor sich hin, als er in dem Lastwagen saß und zusah, wie sein älterer Bruder am Obst- und Gemüsestand des alten Mars sorgsam Biotomaten auswählte. Danny warf einen Blick auf die Schlüssel, um sich zu vergewissern, dass der Motor des Wagens lief und sein Bruder nichts weiter zu tun brauchte als hereinzuspringen und auf die Tube zu drücken. Er beugte sich aus dem Fenster, winkte dem älteren Mann halbherzig zu und sah seinen Bruder finster an. »Jetzt mach schon, Matt. Ich bin am Verhungern.«

Matt schnitt ihm eine Grimasse und lächelte gleich darauf den Alten mit routiniertem Charme an. »Fröhliche Weihnachten, Mr. Mars«, sagte er munter, während er ihm mehrere Geldscheine reichte und die Tüte mit den Tomaten nahm. »Bis dahin sind es keine zwei Wochen mehr. Ich freue mich schon auf den diesjährigen historischen Umzug.«

Danny stöhnte. Die Miene des alten Mars verfinsterte sich sichtlich. Seine struppigen Augenbrauen zogen sich zu einem breiten Strich zusammen. Er murrte entrüstet und spuckte auf den Boden.

Das Lächeln auf Matts Gesicht ging in ein lausbubenhaftes Grinsen über, als er um die Ladefläche des Pick-up lief und die Tür auf der Fahrerseite aufriss. Er saß kaum auf dem Fahrersitz, als er auch schon das Radio aufdrehte, damit »Jingle Beils« laut aus den Boxen schallte.

»Du solltest besser losfahren, Matt«, murmelte Danny nervös, als er aus dem Fenster schaute und sich nach dem Gemüsestand umsah. »Er bewaffnet sich bereits. Aber du konntest es ja nicht lassen, ihm fröhliche Weihnachten zu wünschen, stimmt's? Du weißt doch, wie sehr er diesen Umzug hasst. Und du weißt auch, dass du ihn mit dieser Musik auf die Palme bringst!«

Die erste Tomate wurde gegen die Heckscheibe des Pickup geschleudert, als Matt Gas gab, der Wagen einen Satz machte und die Reifen Erdklumpen in die Luft aufwirbelten, während er schlingernd anfuhr. Die Tomate landete mit unfehlbarer Zielsicherheit und bespritzte die Heckscheibe mit Saft, Samen und Fruchtfleisch. Etliche weitere Geschosse trafen die Heckklappe, als der Wagen vom Parkplatz schoss und die Straße hinunterraste.

Danny sah seinen Bruder finster an. »Du weißt doch, dass er Weihnachten hasst. Letztes Jahr hat er während des mitternächtlichen Umzugs den Schäfer getreten. Jetzt wird er noch grantiger sein als sonst. Wenn du deinen Mund gehalten hättest, wären wir dieses Jahr vielleicht ungeschoren davongekommen, aber jetzt wird er es uns heimzahlen müssen.«

Matts Gelächter ließ seine breiten Schultern beben. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du letztes Jahr den Schäfer gespielt. So weh hat er dir nun auch nicht getan, Kleiner. Ein leichter Tritt gegen das Schienbein schadet nicht. Das festigt den Charakter.«

»Du findest es nur komisch, weil es nicht dein Schienbein war.« Danny rieb sein Bein, als schmerzte es fast ein Jahr später immer noch.

»Du kannst jede Form von Abhärtung dringend gebrauchen«, hob Matt hervor. Er fuhr auf die Schnellstraße, ein glitzerndes Band, das sich in zahlreichen Kurven und Kehren an den Klippen über dem Meer entlangwand. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, auf dieser Straße schnell zu fahren, obwohl Matt jede Einzelne der Serpentinen kannte. Er nahm geschickt eine scharfe Kurve und ging mit Schwung in die nächste Steilkehre. Die Straße führte an dieser Stelle bergauf und beschrieb fast eine Haarnadelkurve. Zu seiner Rechten stieg das Gelände steil an und die hohe Böschung war mit smaragdgrünen Gräsern bewachsen, aus denen die atemberaubende Farbenpracht zahlloser wild wuchernder Blumen leuchtend hervorstach. Zu seiner Linken schlängelte sich ein schmaler Pfad an den Klippen entlang und führte steil zur endlosen Weite des blauen Meeres mit seinen weißen Schaumkronen und den dröhnenden Wogen hinunter.

»O mein Gott! Da ist Kate Drake«, sagte Danny schadenfroh und deutete auf eine Frau, die auf einem Pferd über den schmalen Pfad neben der Straße ritt.

»Das kann sie nicht sein.« Matt kurbelte hastig das Fenster auf seiner Seite herunter und verrenkte sich den Hals, um sie schamlos anzugaffen. Er konnte nur den Rücken der Reiterin sehen, die ganz in Weiß gekleidet war und dichtes kastanienbraunes Haar hatte, dem der Sonnenschein einen flammend roten Schimmer verlieh. Sein Herz pochte heftig. Sein Mund wurde trocken. Nur Kate Drake brachte es fertig, Weiß zu tragen, wenn sie mit einem Pferd so dicht am Straßenrand entlangritt. Es konnte niemand anderes sein. Er nahm den Fuß vom Gas, damit er sie im Vorbeifahren besser sehen konnte, und gleichzeitig schaltete er das Radio leiser.

»Matt! Pass auf, wohin du fährst«, kreischte Danny und stemmte sich gegen das Armaturenbrett, als der Pick-up von der Straße abkam und geradewegs in die grasbewachsene Böschung rollte, bevor er abrupt zum Stehen kam. Beide Männer wurden auf ihren Sitzen zurückgeschleudert und von den Gurten gegen die Rückenlehnen gepresst.

»Verdammter Mist!«, brüllte Matt. Er drehte sich zu seinem Bruder um. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Nein, gar nichts ist in Ordnung mit mir, du Volltrottel!

Du bist gefahren wie der letzte Idiot, nur weil du mal wieder Kate Drake angegafft hast. Mir tut von Kopf bis Fuß alles weh. Ich brauche eine Halskrause und ich glaube, ich könnte mir den kleinen Finger gebrochen haben.« Danny hielt eine Hand hoch, umklammerte mit der anderen sein Handgelenk und stieß ein lautes Stöhnen aus.

»Jetzt halt schon den Mund«, sagte Matt grob.

»Matthew Granite. Um Himmels willen, bist du verletzt? Ich habe ein Handy und kann auf die Klippe hinausreiten, um Hilfe zu rufen.«

Kates Stimme klang noch ganz genau so, wie er sie in Erinnerung hatte. Sanft. Melodisch. Für lange Nächte und Satinbettwäsche bestimmt. Matt drehte den Kopf um und sah sie an. Er sog ihren Anblick in sich auf. Vier lange Jahre waren vergangen, seit er das letzte Mal mit ihr gesprochen hatte. Sie stand neben seinem Wagen, hielt die Zügel locker in der Hand und sah ihn mit ihren großen grünen Augen besorgt an. Wieder einmal fiel ihm auf, welch unglaublich schöne Haut sie hatte. Makellos. Vollkommen. So zart, dass er ihr gern mit einem Finger über die Wange gestrichen hätte, einfach nur, um zu sehen, ob sie echt war.

»Mir fehlt nichts, Kate.« Es war ein Wunder, dass seine Stimme nicht versagte. Seine Zunge schien allerdings am Gaumen festzukleben. »Ich muss wohl versucht haben, die Kurve etwas zu schnell zu nehmen.«

Vom Beifahrersitz ertönte ein verächtliches Schnauben. »Du bist im Schneckentempo gefahren. Du hast nur nicht aufgepasst, wohin du fährst.«

Matts Stiefelabsatz trat fest gegen das Schienbein seines Bruders und Danny stieß ein Geheul aus, das durch Mark und Bein ging.

»Kein Wunder, dass der alte Mars dich letztes Jahr treten wollte«, murmelte Matt leise.

»Daniel? Bist du verletzt?« Kates Stimme klang besorgt, doch ihre faszinierende Unterlippe zitterte, als stünde sie kurz davor, laut loszulachen.

Da er sie schleunigst aus dem Dunstkreis seines Bruders entfernen wollte, stieß Matt hastig die Tür auf und verwandte mehr Kraft als nötig darauf. Die Tür schlug gehörig gegen Kates Beine. Sie sprang mit einem Satz zurück, das Pferd machte Anstalten sich aufzubäumen und Danny, dieser verfluchte Kerl, lachte wie eine Hyäne.

Matt stöhnte. Er war als U.S. Army Ranger mit Orden ausgezeichnet worden und hatte jahrelang beim Militär gedient. Er hatte geheime Aufträge ausgeführt, bei denen sein Leben von seiner körperlichen Geschicklichkeit und seinem sicheren Auftreten abhing, und doch brachte er es immer wieder fertig, sich in Kates Gegenwart linkisch und ungehobelt zu benehmen. Er klappte sein großes Gestell auseinander und ragte so hoch über ihr auf, dass er sich wie ein Riese fühlte. Kates Auftreten dagegen war stets vollendet. Sie wirkte gelassen und anmutig. Und sie konnte sich blendend ausdrücken. Jetzt stand sie vor ihm und bot einen wunderschönen Anblick, ganz in Weiß und ihr Haar attraktiv vom Wind zerzaust. Sie war der einzige Mensch auf Erden, der mit nichts weiter als einem Lächeln bewirken konnte, dass Matt die Fassung verlor, während gleichzeitig seine Körpertemperatur in die Höhe schoss.

»Ist Danny tatsächlich verletzt?«, fragte Kate und kehrte Matt ihr Profil zu, als sie versuchte, das nervöse Pferd zu beruhigen.

Das gab Matt Gelegenheit, sich an ihrer phantastischen Figur satt zu sehen. Er ließ seinen Blick über ihre sanften Kurven gleiten und sog sie in sich auf. Schon immer hatte er ihr mit Begeisterung nachgeblickt, wenn sie ihn stehen ließ. Keine andere Frau bewegte sich derart sexy. Sie sah so anständig aus und doch hatte sie diesen anzüglichen Gang, den Schlafzimmerblick und prachtvolles Haar, das in einem Mann den Wunsch weckte, es die ganze Nacht lang über seine Haut gleiten zu fühlen. Es gelang ihm mit Mühe und Not, einen wehmütigen Seufzer zu unterdrücken. Wieso hatte er nicht gewusst, nicht instinktiv gefühlt, dass Kate in der Stadt war? Es schien, als ließen ihn seine Antennen im Stich.

»Danny fehlt nichts, Kate«, beteuerte Matt.

Sie warf ihm ein kleines Lächeln über die Schulter zu und ihre Augen funkelten belustigt. »In wie viele Unfälle warst du eigentlich schon verwickelt, Matt? Es scheint, als sei dein armes Fahrzeug bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich dir im Lauf der letzten Jahre begegnet bin, jedes Mal in einer Notlage gewesen.«

Das stimmte, aber es war ihre Schuld. Kate Drake rief bei ihm unweigerlich seltsame Verhaltensweisen hervor. Normalerweise war er sehr geschickt und bewältigte auch schwierige Aufgaben ohne Schwierigkeiten. Es sei denn, Kate war in der Nähe – dann konnte er sich kaum verständlich ausdrücken.

Kate war noch immer mit ihrem Pferd beschäftigt, und somit fand Matt Zeit, um festzustellen, dass seine Jeans und das blaue Chambrayhemd, das er zum Arbeiten trug, im krassen Gegensatz zu Kates makelloser Erscheinung ganz in Weiß, mit Schmutz, Sägemehl und Zementstaub überzogen waren. Er nutzte die Gelegenheit, um den Staub aus seinen Kleidungsstücken zu klopfen, woraufhin eine graue Wolke aufstieg und Kate einhüllte, als sie sich wieder zu ihm umdrehte. Sie hüstelte dezent und bewegte mehrfach hintereinander flink ihre langen, federleichten Wimpern, um zu verhindern, dass der Staub in ihren Augen brannte. Ein weiteres höhnisches Johlen kam aus Dannys Richtung.

Matt warf seinem Bruder einen wütenden Blick zu, bevor er sich wieder an Kate wandte. »Ich hatte keine Ahnung, dass du dich in der Stadt aufhältst. Sonst ist doch Verlass auf den Klatsch der Leute.« Inez im Lebensmittelladen hatte gesagt, Sarah sei in der Stadt und Hannah und Abigail ebenfalls, drei von Kates sechs Schwestern, aber Kate hatte sie mit keinem Wort erwähnt.

»Sarah ist zu Besuch gekommen und du weißt ja, wie meine Familie ist. Wir treffen uns gerne so oft wie möglich.« Kate zuckte die Achseln, eine schlichte Geste, doch an ihr machte sie sich verflucht sexy. »Ich war in London, um für meinen neuesten Thriller zu recherchieren.« Sie lachte leise. Das Geräusch ging ihm durch und durch und stellte hochinteressante Dinge mit seinem Körper an. »Der Nebel von London eignet sich jedes Mal wieder blendend für eine schaurige Kulisse. Davor war ich in Borneo.« Kate reiste für ihre Recherchen rund um die Welt und schrieb zwischendurch ihre erfolgreichen Romane und Kriminalgeschichten. Sie war so schön, dass ihr Anblick schmerzhaft war, und so kultiviert, dass er sich in ihrer Gegenwart primitiv vorkam. Noch dazu war sie so sexy, dass er stets das Verlangen verspürte, zum Neandertaler zu werden, sie über seine Schulter zu werfen und sie in die Abgeschiedenheit seiner privaten Höhle zu schleppen. »Sarah hat sich mit Damon Wilder verlobt.« Kate neigte den Kopf ein wenig zur Seite und tätschelte wieder den Hals des Pferdes. »Hast du ihn schon kennengelernt?«

»Nein, aber alle reden darüber. Niemand hat erwartet, dass Sarah jemals heiraten würde.«

Matt beobachtete, wie die Sonnenstrahlen auf ihr Haar fielen und die seidigen Strähnen zu einer lodernden Versuchung machten. Sein Blick folgte ihrer Hand, als sie den Hals des Pferdes streichelte, und er nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass sie keinen Ring trug.

Danny räusperte sich. Er beugte sich auf der Fahrerseite aus dem Wagen. »Du geiferst, Brüderchen«, flüsterte er mit übertrieben lauter Stimme.

Matt trat die Fahrertür zu, ohne sich aus dem Takt bringen zu lassen. »Wirst du diesmal längere Zeit hier bleiben?« Er hielt den Atem an, während er auf ihre Antwort wartete. Und um alles noch schlimmer zu machen, wieherte Danny vor Lachen. Matt sandte ein stummes Gelübde gen Himmel, noch ehe es Abend wurde, würden ihre Eltern ein Kind weniger haben, das ihnen zur Last fiel.

»Ich werde sogar ganz hier bleiben und mich in Sea Haven niederlassen. Ich habe die alte Mühle auf den Klippen über der Seelöwenbucht gekauft. Die Mühle werde ich renovieren und dort eine Buchhandlung und ein Café einrichten. Das Haus werde ich modernisieren, damit ich darin wohnen kann. Ich habe es satt, ständig auf Wanderschaft zu sein. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wieder nach Hause zurückzukehren.«

Kate lächelte. Ihre Zähne waren so vollkommen wie ihre makellose Haut. Matt ertappte sich dabei, dass er sie anstarrte, während die Erde unter seinen Füßen bebte. Er stand da und strahlte bei der Vorstellung, dass Kate dauerhaft in ihrem Heimatort leben würde.

Ein Schatten zog über den Himmel, schwarze Schlieren, die umherwirbelten und brodelten, ein dunkler Hexenkessel aus Wolken, die sich vor die Sonne schoben. Eine Möwe stieß einen Schrei aus. Dann griff der ganze Vogelschwarm über ihren Köpfen den warnenden Ruf auf. Matt ließ sich restlos von Kates Lächeln gefangen nehmen und merkte gar nicht, dass sich der Boden unter seinen Füßen tatsächlich hob und senkte und dieser Eindruck nicht nur auf die erstaunliche Wirkung zurückzuführen war, die Kate auf ihn hatte. Das Pferd wich bedrohlich nah zur Straße zurück, riss verängstigt den Kopf in die Höhe und zog Kate fast mit sich. Matt streckte schleunigst einen Arm aus und packte mit einer Hand die Zügel, um das Tier zum Stehen zu bringen. Seinen anderen Arm schlang er um Kates Taille und zog ihren kleineren Körper an seinen, damit sie nicht in den gezackten Spalt fiel, der sich dicht vor ihnen auftat, sich schnell weiter ausbreitete und direkt auf Kates Füße zukam. Matt hob sie hoch, trug sie ein paar Schritte fort von dem klaffenden Riss und zerrte das Pferd im Schlepptau hinter sich her, während der Spalt sich weiter öffnete. Er war nur ein paar Zentimeter breit, aber um einiges tiefer, und er war sehr lang und führte an der Böschung hinauf.

»Alles in Ordnung mit dir, Danny?«, rief er seinem Bruder zu.

»Ja, mir ist nichts passiert. Das war ein richtig großes Beben.«

Kate klammerte sich an Matt und ihre kleinen Hände gruben sich in seine Schultern. Er hörte, wie sie nach Luft schnappte, doch nur dieses eine Anzeichen strafte ihre ruhige Haltung Lügen. Sie schrie nicht auf. Der Boden beruhigte sich wieder und Matt ließ Kates Füße den Pfad berühren, aber er hielt sie weiterhin fest. Sie war unglaublich warm und weich und roch nach frischen Blumen. Er beugte sich über sie und sog ihren Duft tief in sich ein, während sein Kinn ihren Kopf streifte. »Alles in Ordnung, Kate?«

Kate wirkte so gelassen wie sonst auch und redete mit einem beschwichtigenden Murmeln auf das Pferd ein. Nichts konnte sie aus der Fassung bringen. Kein Erdbeben. Und Matthew Granite schon gar nicht. »Ja, natürlich, das war doch nur ein kleines Erdbeben.« Sie blickte mit einem verwunderten Stirnrunzeln zu den brodelnden Wolken auf.

»Das sehe ich anders. Immerhin hat sich der Boden verdammt dicht vor deinen Füßen aufgetan.«

Kate tätschelte weiterhin den Hals des Pferdes und schien nicht wahrzunehmen, dass Matt sie immer noch festhielt und ihren Körper zwischen seinem und dem Tier einzwängte. Er konnte ihre Hände zittern sehen, während sie darum rang, die Fassung zu bewahren, und dafür bewunderte er sie umso mehr. Sie hob ihr Gesicht in den Wind. »Ich liebe die Meeresluft, diese frische Brise. Sowie ich sie auf meinem Gesicht spüre, fühle ich mich, als sei ich nach Hause gekommen.«

Matt räusperte sich. Kate hatte ein wunderschönes Profil. Als sie sich umdrehte, pressten sich ihre Brüste gegen die dünne Bluse, üppig und rund und so verlockend, dass er sich zusammenreißen musste, um sich nicht hinunterzubeugen und seinen Mund auf den weißen Stoff zu legen, der sich an sie schmiegte. Er versuchte sich von Kate zu lösen, aber er fühlte sich viel zu sehr zu ihr hingezogen. So gebannt, als hätte sie ihn hypnotisiert. Mit ihrer eleganten Silhouette und ihren weichen weiblichen Rundungen hatte sie ihn schon immer an eine Ballerina erinnert. Seine Lunge brannte und lechzte nach Luft und er hörte ein seltsames Rauschen in seinem Kopf. Er brauchte drei Anläufe, bevor er es schaffte, den Mund aufzumachen und einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. »Wenn es dir mit der Renovierung wirklich ernst ist, Kate – meine Familie ist zufällig im Baugewerbe tätig.«

Sie richtete die volle Leuchtkraft ihrer riesigen Augen auf ihn. »Ja, jetzt fällt mir wieder ein, dass ihr alle Bauunternehmer seid. Das schien mir immer ein wundervoller Beruf zu sein.« Sie streckte ihre Hände nach seinen aus und nahm sie. Er hatte große Hände, rau und schwielig, wogegen ihre Hände klein und zart waren. »Ich habe mich schon immer für deine Hände begeistert, Matthew. Ich erinnere mich noch, dass ich mir als junges Mädchen gewünscht habe, ich hätte Hände, die so gut zupacken können wie deine.« Ihre Worte sandten, ebenso wie ihre Berührung, züngelnde kleine Flämmchen über seine Haut.

Matt war sicher, dass er ein Schnauben und wahrscheinlich auch ein höhnisches Wiehern hörte, das aus der Richtung seines jüngeren Bruders kam.

»Ich glaube, du hast sie jetzt lange genug festgehalten, Brüderchen«, rief Danny. »Der Boden hat schon vor ein paar Minuten aufgehört zu beben.«

Matt war zu wohlerzogen, um seinen Bruder darauf hinzuweisen, dass Kate seine Hände hielt und nicht umgekehrt. Als er auf sie hinunterblickte, sah er, wie sich eine leichte Röte unter ihre Haut schlich. Widerstrebend trat er einen Schritt zurück. Der Wind zerrte an ihrem Haar, doch das ließ sie nur noch verlockender wirken. »Tut mir leid, Kate. Wir hatten schon seit einer ganzen Weile kein Erdbeben mehr, das uns derart erschüttert hat.« Er fuhr sich aufgewühlt mit den Fingern durch das dunkle Haar und hätte gern etwas Brillantes gesagt, damit sie noch ein Weilchen blieb. Aber ihm fiel nichts ein. Absolut nichts. Kate wandte sich zu ihrem Pferd um. Allmählich beschlich ihn Verzweiflung. Er war ein erwachsener Mann, der zupacken und hart arbeiten konnte. Manche Leute behaupteten, er sei brillant, wenn es um Entwürfe für Bauvorhaben ging, und die meisten Frauen warfen sich ihm regelrecht an den Hals, aber Kate nahm seelenruhig die Zügel ihres Pferdes. Sie bekam keine weichen Knie und schien sich von seiner Gegenwart überhaupt nicht beeindrucken zu lassen. Er wischte sich die plötzlich ausbrechenden Schweißperlen von der Stirn und hinterließ dort eine Schmutzspur.

»Kate.« Er sagte dieses eine Wort sehr leise.

Danny streckte den Kopf aus dem Fenster auf der Fahrerseite. »Willst du vielleicht Hilfe bei der alten Mühle haben, Kate? In diesen Dingen stellt sich Matt wirklich recht geschickt an. Er kann zwar offensichtlich nicht Auto fahren und reden kann er auch nicht, aber wenn es um Renovierungsarbeiten geht, ist er unschlagbar.«

Kates Augen leuchteten. »Das wäre ganz phantastisch, Matthew, aber ich würde unsere alte Freundschaft wirklich nicht ausnutzen wollen. Es müsste eine geschäftliche Abmachung sein.«

Matt war nicht klar gewesen, dass sie ihn als einen Freund ansah. Kate redete nur ganz selten mit ihm, wenn man von den eigentümlichen kurzen Gesprächen absah, die sich ergeben hatten, wenn sie einander in den Jahren, als Kate die Highschool besuchte, zufällig über den Weg gelaufen waren. Ihm gefiel die Vorstellung, mit ihr befreundet zu sein. Wenn sie in seiner Nähe war, ging jede Zelle seines Körpers in Alarmbereitschaft. So war es schon immer gewesen, selbst damals, als sie noch ein Teenager war und er seine ersten Jahre am College absolviert hatte. Kate hatte schon immer seine Beschützerinstinkte geweckt, aber er hatte das Gefühl gehabt, sie in erster Linie vor dem Reiz beschützen zu müssen, den sie auf ihn persönlich ausübte. Einem Mann wie Matt war das ungeheuer unangenehm gewesen. Er hatte seine heimlichen Phantasien in Bezug auf sie in jedes Land mitgenommen, in das man ihn geschickt hatte. Tag und Nacht war sie an seiner Seite gewesen, in Urwäldern und in Wüsten und in den schlimmsten Situationen, und die Erinnerung an sie hatte ihn heil zurückkehren lassen. Inzwischen war er ein erwachsener Mann, der in Kriegen gekämpft und mehr als genug Lebenserfahrung gesammelt hatte, um Selbstvertrauen zu besitzen. Und er hatte oft genug festgestellt, dass er mit jeder anderen Frau locker und ganz natürlich reden konnte. Nur in Kates Gegenwart war das anders. Er würde ihre Freundschaft annehmen. Das war zumindest ein Anfang. »Sag mir, wann ich mich mal dort umsehen soll, Kate, und ich werde meinen Terminplan darauf abstimmen. Es hat Vorteile, wenn man sein eigener Herr ist.«

»Diese Vorteile mache ich mir gern zunutze, wenn du sie mir schon so großzügig anbietest. Glaubst du, es ließe sich auf die Schnelle machen, dass du morgen Nachmittag mit mir hinfährst? Ich weiß, es ist knapp, und ich würde dich nicht darum bitten, wenn es mir nicht darum ginge, dieses Projekt so schnell wie möglich in Angriff zu nehmen.«

»Das klingt prima. Ich hole dich gegen vier im Haus auf der Klippe ab. Du wohnst doch bei deinen Schwestern, oder nicht?«

Kate nickte und drehte sich um, als sie sah, wie der "Wagen des Sheriffs hinter dem Pick-up anhielt. Matt sah sie weiterhin an, aber vor allem deshalb, weil er seinen Blick nicht von ihr losreißen konnte. Ihr Lächeln war freundlich, sogar wohlwollend, doch schon bevor er den Kopf umdrehte, war ihm klar, dass es sich bei dem Mann, der aus dem Streifenwagen stieg, um Jonas Harrington handelte. Ihm ging auf, dass er Kate viel zu gut kannte und bestens mit der Palette ihrer Gesichtsausdrücke vertraut war. Und das wiederum bedeutete, dass er viel zu viel Zeit darauf verwendet hatte, sie zu beobachten. Kate lächelte zwar, doch in ihre Haltung hatte sich eine Spur von Steifheit eingeschlichen. Das war jedes Mal der Fall, wenn Jonas in der Nähe war. Ihren Schwestern ging es allen genauso. Jetzt fragte er sich zum ersten Mal, warum Kate eigentlich so auf den Sheriff reagierte.

»Tja, Kate, wie ich sehe, hast du mal wieder einen Unfall verursacht«, sagte Jonas zur Begrüßung. Er drückte Matt die Hand und klopfte ihm auf den Rücken. »Die Drake-Schwestern haben einen Hang, auf Schritt und Tritt Verheerungen anzurichten.« Er zwinkerte Matt zu.

Kate zog lediglich eine Augenbraue hoch. »Das sagst du schon seit unserer Kindheit.«

Jonas beugte sich vor, um Kate ganz ungezwungen einen Kuss auf die Wange zu drücken. Etwas Pechschwarzes und Mörderisches, dessen Existenz Matt nicht wahrhaben wollte, regte sich wie ein dunkler Schatten in seinem Innern. Er legte eine plump besitzergreifende Hand auf Kates Rücken.

Jonas schenkte Matts Körpersprache keinerlei Beachtung. »Das werde ich immer noch sagen, wenn ihr alle in euren Achtzigern seid, Kate. Wo stecken die anderen überhaupt?« Er sah sich um, als erwartete er, dass ihre Schwestern im Galopp über den Bergrücken nahen würden.

»Du wirkst irgendwie nervös, Jonas«, bemerkte Danny aus der Sicherheit des Wagens. »Was hast du diesmal angestellt? Hast du Hannah verhaftet und sie aufgrund irgendeiner Anklage eingesperrt, die du dir aus den Fingern gesogen hast? Hockt sie vielleicht auf ihrem hübschen Hintern im Gefängnis?«

Er rutschte tiefer auf seinem Sitz hinunter, als Kate ihren Blick mit voller Wucht auf ihn richtete. Der Wind strömte vom Meer herauf und sie rochen und fühlten den Ozean in der Brise. »Ich hatte keine Ahnung, dass du dich so sehr für die Anatomie meiner Schwester interessierst, Danny.«

»Jetzt hör bloß auf, Kate. Sie ist einfach phantastisch. Es gibt keinen Mann, der sich nicht für Hannahs Anatomie interessiert«, hob Danny alles andere als bußfertig hervor.

»Wenn sie nicht will, dass die Männer hinschauen, wie kommt sie dann dazu, jedem dahergelaufenen Fotografen zu erlauben, dass er Aufnahmen von ihr macht?«, murrte Jonas grimmig. »Und nur zu deiner Information, wenn ich Hannah verhaften wollte, bräuchte ich mir keine Anklage aus den Fingern zu saugen«, fügte er mit finsterer Miene hinzu. »Ich sollte sie wegen unsittlichen Entblößens einbuchten. Diese Illustrierte, die bei Inez im Laden ausliegt, hat sie aufs Titelbild gebracht... nackt!«

»Sie ist nicht nackt. Sie trägt einen Badeanzug, Jonas, und darüber einen Sarong.« Kates Stimme klang so ruhig wie sonst auch, aber Matt fiel auf, dass ihre Hand sich um die Zügel des Pferdes spannte, bis die Knöchel weiß wurden. Er rückte noch näher zu ihr und schob sich zwischen sie und den Sheriff.

»Sie könnte es ja mal mit einem anständigen Einteiler probieren. Und darüber vielleicht einen knöchellangen Bademantel oder so was tragen. Und warum muss sie diese alberne Pose einnehmen, damit auch ganz bestimmt jeder hinschaut...« Jonas ließ seinen Satz abreißen, als der Wind wieder böiger auffrischte und diesmal obendrein heulte, bevor er das wild umherwirbelnde Laub und die kleinen Tröpfchen Meerwasser vielstimmig flüstern ließ. Sein Hut wurde ihm vom Kopf geweht und davongetragen. Der Wind änderte die Richtung, strömte zum Meer zurück und entfernte sich auf ganz ähnliche Weise wie eine Welle von der Küste. Die kräftige Brise, die plötzlich aufgekommen war, riss den Hut mit sich und ließ ihn über den Rand der Klippen und in das aufgepeitschte Wasser unter ihnen segeln.

Jonas wirbelte herum und richtete seinen Blick auf das große Haus, das in der Ferne auf den Klippen thronte. »Verdammt noch mal, Hannah. Das ist der dritte Hut, den ich eingebüßt habe, seit du wieder zu Hause bist« Er rief die Worte lauthals in den kreisenden Wirbelwind.

Einen Moment lang herrschte Stille. Matt räusperte sich. »Jonas, ich glaube nicht, dass sie dich von hier aus hören kann.«

Jonas sah ihn finster an. »Sie kann mich hören. Stimmt's, Kate? Sie weiß genau, was ich sage. Richte ihr aus, das sei nicht mehr komisch. Sie kann ihre kleinen Spielchen mit dem Wind einstellen.«

»Du glaubst an all die Dinge, die sich die Leute über die Drake-Schwestern erzählen, stimmt's, Jonas?«, sagte Danny. Er pfiff die Titelmelodie von Unwahrscheinliche Geschichten.

Matt sah auf Kates Hand hinunter. Die Zügel zitterten. Er legte seine Hand auf ihre und sorgte dafür, dass die Zügel in ihrer Umklammerung stillhielten. »Ich sehe mir die Mühle morgen mit Vergnügen an, Kate. Darf ich dir aufs Pferd helfen?«

»Danke, Matthew. Das wäre sehr nett von dir.«

Er machte sich nicht die Mühe, seine Hände zur Baumleiter zu falten, um ihr auf den Sattel zu helfen. Er hob sie schlicht und einfach hoch. Er war groß und kräftig und konnte sie mit Leichtigkeit auf das Pferd heben. Sie ließ sich auf dem Sattel nieder wie eine geborene Reiterin, mit größter Eleganz und Raffinesse. Sie kam dem Inbegriff von Vollkommenheit so nahe wie jeder erdenkliche Traum und sie war ebenso unerreichbar für ihn wie alle anderen Hirngespinste. »Ich hole dich ab. Grüß deine Schwestern von mir.«

»Das werde ich ganz bestimmt tun, Matthew. Richte deinen Eltern bitte herzliche Grüße von mir aus. Es war nett, dich zu sehen, Danny.« Ihr kühler Blick streifte Jonas. »Ich bin sicher, dass du dich in der Nähe des Hauses herumtreiben wirst, Jonas.«

Jonas zuckte die Achseln. »Ich nehme meinen Job sehr ernst, Kate.«

Matt sah ihr nach, als sie fortritt, und erst als eine Wegbiegung sie seiner Sicht entzog, wandte er sich an den Sheriff. »Was zum Teufel hatte das alles zu bedeuten?«

»Du weißt ja, dass mich alle sieben Drake-Frauen die meiste Zeit um den Verstand bringen«, sagte Jonas. »Ich habe dir doch von all den Scherereien erzählt, die sie sich einhandeln. Schließlich horchst du mich laufend über sie aus. Tja ...«, sagte er mit einem boshaften Grinsen und deutete auf den Pick-up. »Ist das nicht schon der dritte Unfall, den du hattest, wenn Kate in der Nähe war? Du solltest selbst wissen, wovon ich rede.«

Jonas war mit Matt Granite aufgewachsen, hatte gemeinsam mit ihm die Schule besucht, war ebenfalls zum Militär gegangen und hatte bei den Rangers Seite an Seite mit ihm gekämpft. Er wusste, was Matt für Kate empfand. Es war kein Geheimnis. Matt stellte sich nicht allzu geschickt an, wenn es darum ging, seine Gefühle vor seiner Familie und seinen Freunden zu verbergen. Vor allem, da Jonas zwei Jahre vor Matt aus dem Militärdienst ausgeschieden war und Matt ihn seitdem ständig ins Kreuzverhör genommen hatte, was Kates Verbleib und ihren Familienstand anging. Matt war seit drei Jahren wieder zu Hause und hatte darauf gewartet, dass auch Kate endgültig nach Hause kommen würde.

Danny lachte höhnisch. »Du warst ja damals dabei, Jonas, zu seinen College-Zeiten, als er Dads Truck in den Bach gefahren und auf einen Felsen gesetzt hat. War Kate zu der Zeit nicht etwa drei Jahre alt?«

Matt holte tief Atem. Er konnte seinen Bruder nicht vor den Augen des Sheriffs umbringen, selbst dann nicht, wenn es Jonas war. Als er den Truck seines Vaters, den er sich ohne Erlaubnis genommen hatte, zu Schrott gefahren hatte, war Kate etwa fünfzehn gewesen, für einen jungen Mann, der das College besuchte, viel zu jung, um sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Und ihm war immer noch peinlich, dass seinen Brüdern und Jonas klar gewesen war, warum er das Fahrzeug zu Schrott gefahren hatte. Selbstverständlich hatte er die Drake-Schwestern schon immer gekannt. Jeder in der ganzen Stadt kannte sie. Aber er hatte sie nie wirklich angesehen. Jedenfalls nicht mit Faszination, körperlichem Verlangen und wie ein Mann. Bis er Kate gesehen hatte, als sie im Bach stand und Brombeeren pflückte, während die Sonne auf ihr Haar fiel und ihre großen meergrünen Augen ihm direkt ins Gesicht gesehen hatten. Das zweite Mal hatte er vor vier Jahren einen Totalschaden verursacht. Matt hatte seinen Urlaub zu Hause verbracht und war in den Anblick von Kate vertieft gewesen, die mit ihren Schwestern auf dem Bürgersteig vorüberlief. Daher war ihm entgangen, dass er vor einem Zementblock geparkt hatte. Deshalb hatte er den Wagen seiner Mutter gegen diesen Block gesetzt, als er aus der Parklücke herausfahren wollte. Jetzt ignorierte er den Hohn seines Bruders und lief um seinen Wagen herum, um den Schaden zu inspizieren. »Ich glaube, ich kann ihn ohne Abschleppwagen rausbugsieren.«

»Wie ich sehe, hast du den alten Mars geärgert.« Jonas deutete auf die Tomatenpampe auf der Heckscheibe.

»Du kennst doch Matt. Er konnte es einfach nicht lassen, dem Alten fröhliche Weihnachten zu wünschen.« Danny stieß die Tür auf. »Es macht ihm Spaß, den komischen Kauz kurz vor dem Umzug auf die Palme zu bringen. Das tut er jedes Jahr. Als Mom mich dazu gebracht hat, den kleinen Trommler zu spielen, hat Mars meine Trommelstöcke mehrfach zerbrochen und sie auf den Boden geworfen und dann ist er mit beiden Füßen darauf herumgesprungen. All meine Brüder hatten ihren Spaß daran, aber ich bin seitdem traumatisiert. Ich habe Alpträume, in denen er auf mir herumtrampelt.«

Jonas lachte. »Mars ist ein sonderbarer Kauz, aber im Grunde genommen ist er absolut harmlos. Und den größten Teil seiner Ernte verschenkt er an die Leute, die seine Erzeugnisse wirklich brauchen können. Er bringt sie einigen der alleinstehenden Mütter und auch etlichen älteren Paaren. Und ich weiß, dass er den kleinen Ruttermyer durchfüttert, der das Down-Syndrom hat und sich mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durchschlägt. Er hat Donna überredet, dem Jungen ein Zimmer gleich neben ihrem Geschenkartikelladen zu geben. Ich weiß auch, dass er ihm bei seinen Rechnungen unter die Arme greift.«

»Ja, tief in seinem Innern ist er ein anständiger Kerl«, stimmte Matt ihm zu. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Er kann bloß Weihnachten nicht ausstehen.« Er wies mit dem Kopf auf die andere Seite des Wagens und die beiden Männer begaben sich nach vorn, um den Schlamm und die Erde abzukratzen und den Pick-up anzuschieben, bis sie die Stoßstange von der Böschung gelöst hatten. »Ich fand es gar nicht gut, dass du Kate gegenüber gesagt hast, sie und ihre Schwestern seien anders als andere Leute, Jonas.« Matt sagte die Worte mit gesenkter Stimme, aber Jonas und er waren schon seit ihrer Kindheit miteinander befreundet und Jonas erkannte den warnenden Tonfall.

»Ich werde nicht so tun, als seien sie wie alle anderen, Matt, noch nicht einmal für dich«, fauchte Jonas. »Die Drakes sind etwas ganz Besonderes. Sie besitzen Gaben und sie verausgaben sich für alle anderen, ohne auch nur einen Gedanken an sich selbst oder an ihre eigene Sicherheit zu verschwenden. Ich werde ein Auge auf sie haben, ob es ihnen passt oder nicht. Sarah Drake wäre vor ein paar Wochen beinah umgebracht worden. Hannah und Kate und Abbey waren bei ihr und es hätte auch sie das Leben kosten können.«

Matt fühlte die Worte wie einen Hieb irgendwo in der Nachbarschaft seiner Eingeweide. Sein Herz schlug einen ganz seltsamen Purzelbaum und plumpste in die Tiefe. »Von Sarah habe ich gehört, aber mir ist vollkommen neu, dass die anderen auch dabei waren. Was ist passiert?«

»Um es kurz zu machen, Wilder hatte Leute auf den Fersen, die ihn hierher verfolgt haben. Sie wollten Informationen, die nur er ihnen geben konnte. Er hat mitgeholfen, unser nationales Verteidigungssystem zu entwickeln, und die Regierung wollte ihn um jeden Preis beschützen. Da Sarah aus Sea Haven kommt, lag es nahe, dass das FBI sie zu seiner Bewachung herangezogen hat. Diesen Leuten war er früher schon mal in die Finger gefallen und sie haben seinen Assistenten vor seinen Augen getötet und ihn selbst gefoltert. Deshalb geht er am Stock. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet in das Drake-Haus eingebrochen, als er dort war, und sie waren bereit, Wilder und die Drakes zu töten, um zu kriegen, was sie wollten.« Der Zorn in Jonas' Stimme vertiefte sich.

»Niemand hat ein Wort darüber verloren, dass Kate zu der Zeit auch im Haus war. Ich wusste, dass Sarah Damon Wilder bewacht hat und dass er ein Verteidigungsexperte ist, der irgendwelchen Ärger hatte, aber...« Matt ließ seinen Satz abreißen und sah sich wieder nach dem Haus auf der Klippe um. Es war mit weihnachtlichen Lichterketten geschmückt. Daneben stand eine hohe, dichte Douglastanne, die von oben bis unten geschmückt war und auf der schon vor Sonnenuntergang Lichter blinkten. Wenn er zum Haus hinübersah, verspürte er ein Gefühl von Frieden. Das Gefühl, als sei alles richtig so und hätte seine Ordnung. Die Drake-Schwestern waren die größten Kostbarkeiten, deren sich das Städtchen rühmen konnte. Er wandte den Blick von der Klippe ab und ließ ihn zu der alten Mühle gleiten. Sie lag ein Stück weiter oben an der Straße, die über der Seelöwenbucht vorbeiführte. Eine seltsame Wolkenformation hing über der schmalen Bucht und breitete sich langsam zum Land hin aus. Die Form nahm seine Phantasie gefangen, ein aufgesperrtes schwarzes Maul, dessen Kiefer sich weit öffneten und auf direktem Wege auf sie zukamen.

»Sie alle wären beinah ermordet worden«, sagte Jonas. Seine Augen wurden kalt und ausdruckslos. »Die Drakes nehmen viel zu viel auf sich. Und jeder erwartet von ihnen, dass sie das tun, doch keiner denkt jemals an den Preis, den ihnen das abverlangt.«

»So habe ich das alles noch nie gesehen, Jonas. Aber jetzt fällt mir ein, dass ich sie alle schon vollständig ausgelaugt erlebt habe, jeglicher Energie beraubt, nachdem sie auf die übliche Weise für andere eingesprungen sind.« Matt löste seinen Blick nicht vom Himmel. Er beobachtete eine Möwe, die hektisch versuchte, von dem Pfad der Wolke abzuschwenken, die sich langsam voranbewegte. Der Vogel bremste mitten in der Luft scharf ab und seine Flügel flatterten vor Aufregung heftig. Die ersten Nebelfetzen stiegen vom Meer auf und trieben zur Küste. »Vielleicht sollten wir alle genauer darauf achten, was sich bei ihnen tut«, murmelte er leise, da die Worte mehr an ihn selbst als an die anderen gerichtet waren.

 

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